Julia Wolf
ALLES IST JETZT
Ingrids Seelenreise in die zunehmende Abstumpfung beschreibt dieser kurze Roman dabei durchaus irritierend als Gesellschaftsdiagnose. Wobei die Protagonistin an eine andere große Egoistin aus dem großbürgerlichen Zeitalter erinnert: Hedda Gabler, die kalt zerstört, was sie nicht lieben kann, taucht in dieser Ingrid wieder auf als müde Täterin der Jetzt-Besoffenheit.
Süddeutsche Zeitung Buch-Tipp 29.Juli 2015
Kunstpreis Literatur der Lotto Brandenburg GmbH 2015
Pressestimmen
LESEPROBE
Kein Kopf denkt ohne Körper. „Embodiment“ nennen Kognitionswissenschaftler die Unmöglichkeit, Geist und Leib voneinander zu trennen. Julia Wolfs Debütroman „Alles ist jetzt“ erscheint wie eine Bestätigung der These: Schreiben beginnt in der Physis. Die 1980 in Groß-Gerau geborene Schriftstellerin reiht in ihrer Geschichte über Ingrid, eine junge Frau aus bürgerlichen Verhältnissen, Sätze wie offene Wunden aneinander.
Schmerz und Leid, Enttäuschung und Verlorenheit: Die Hauptfigur nimmt diese Erfahrungen nicht als Anlass zum Reflektieren oder Psychologisieren. Ihre Welt und ihre Sprache weben sich vielmehr aus körperlichen Zuständen. Aus Kälte, Hunger, Müdigkeit und Sex, aus Tanzen, Rennen und Stolpern. In „Alles ist jetzt“ regiert nicht die Zensurmaschine Hirn, sondern die Instinktmaschine Physis.
Wolfs Geschichte entspinnt sich zwischen einer Gegenwart, in der Ingrid in einer Frankfurter Sex-Bar Drinks ausschenkt und mit ihrem drogenabhängigen Bruder eine Wohnung teilt und mehreren Rückblenden in das Erwachsenwerden der Hauptfigur. Ingrid ist Scheidungskind und wächst bei einer emotional labilen, alkoholkranken Mutter auf. Die betäubten Körper – die besoffene Mutter, der bekiffte Bruder – bauen dem Mädchen keine Brücke zwischen Innen- und Außenwelt. Die erste Liebesbeziehung zum älteren Moritz, bester Freund des Bruders, endet in tiefer Verletzung und, das wird zumindest angedeutet, in einer Abtreibung.
In der Erzählgegenwart ist es einige Jahre später, Weihnachten. Ingrid liegt im Bett, „in einer Höhle aus Atem und Herzschlag“, die „Decke über den Kopf gezogen“. Die „Glasglocke“, unter der sie lebt, ist spätestens seit Sylvia Plaths gleichnamigem Roman ein fast schon klassisches Sinnbild für Depression und die Getrenntheit von Welt und Ich. In diesem Zustand hat Ingrid in der frostigen Kälte zwischen den Jahren eine Reihe von wie im Traum verzerrten Schock-Erlebnissen.
Bei einem Pflichtbesuch im Haus der Kindheit wiederholen sich die traurigen Muster der Vergangenheit. Ein späteres Treffen mit dem Vater, mit dem Ingrid nur noch das „Echo eines Gefühls“ verbindet, enthüllt die nur nachlässig überspielte Beziehungslosigkeit. Ingrid sieht auf der Straße ein Baby sterben, wird zum Live-Sex auf der Bühne getrieben und findet ihren Bruder zusammengeschlagen in der gemeinsamen Wohnung. Sein zu „Hackfleisch“ geschlagenes Gesicht „sieht außen aus wie Ingrid von innen“.
Wolf erzählt in kurzen Hauptsätzen. Ihre Sprache bietet trotzdem keine wohlportionierten Wirklichkeitshäppchen dar. Vielmehr entstehen intensive Parataxen, die wie Zähne knirschen und manchmal hämmern wie ein zu schneller Puls. Adorno sah im hauptsatzlastigen Schreiben ein anti-klassizistisches Verfahren, das die Annahme negiert, ein Subjekt könne mithilfe der Sprache Wirklichkeit bewältigen und ordnen. Die Parataxe stelle stattdessen einen Bezug zur Erfahrung des Heterogenen, des logisch nicht Subsumierbaren her.
Tatsächlich führt in Wolfs Roman kaum ein vermittelndes Wort die Sätze zusammen, kaum ein weil, als, dann, deswegen oder darum zeigt Gründe oder Erklärungen für die Geschehnisse auf. So evoziert die Autorin eine derartige Fülle an Eindrücken und Erlebnissen, dass es scheint, als halte das Subjekt die Wirklichkeitsfäden nicht länger in seinen Händen.
Bei Ingrids Treffen mit dem Vater überfallen die Tochter Zahnschmerzen. Sie lindert sie, indem sie sich Nelkenblüten vom väterlichen Strauß auf die Zähne drückt. Als sie sprechen will, quellen statt Worten gelbe Blüten hervor. Das ist nicht nur ein poetisches Bild. Es zeigt auch, wie Wolfs Sprache funktioniert: dass sie mehr Material als artikulierter Gedanke, „mehr Gefühl als Wort“, eher Klang als Bedeutung ist, eine Art „atonales Fiepen im Brustkorb“.
Für Ingrid heißt Sprechen, ein Übermaß an Emotionen nicht artikulieren zu können. Heißt Stammeln, Stottern, Atmen und Zögern. Unter „der Zunge liegt etwas verborgen“, heißt es in diesem Sinn an einer Stelle, „etwas jenseits von Sprache, ein Wünschen, ein Wollen“.
Schön ist Wolfs fast lyrische Sprache, wenn sie eine Realität wie in Zeitlupe vorführt. Dann verdichten sich Details zu verrätselten Sinnbildern: Kohlensäure zischelt in einem Glas, ein Fleck an der Zimmerdecke nimmt die Form von Afrika an. Wie ein Destillat postmoderner Welterfahrung kriechen durch alle Ritzen dieser Wahrnehmungswelt Zufall und Chaos hinein. Und wirbeln alles durcheinander.
Das protokollartige, stotternde Erzählen, nur Schritte vom Abgrund des Verstummens entfernt, ist nicht unbedingt neu. In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sind es vor allem Autoren, deren Romane ebenfalls um seelische Versehrtheit, Krankheit und Sucht kreisen, wie Peter Wawerzinek oder Wolfgang Herrndorf, die die Parataxe ähnlich konsequent einsetzen. Einige Passagen erinnern auch an die luzide Schreibweise von Herta Müller.
Dass ihr Stil Verwandtschaft kennt, bleibt am Ende aber Nebensache. Denn Wolf hat ein Buch geschrieben, das mitreißt, verstört und berührt.
Frankfurter Rundschau 16. Juni 2015
aus der Laudatio von Julia Schoch:
Julia Wolfs Debütroman „Alles ist jetzt“ ist die Geschichte einer Lebensmüdigkeit. Es erzählt von Trennung, von Einsamkeit und der Gewalt, die von der Einsamkeit ausgeht.
Die Autorin montiert wesentliche Momente aus dem Leben einer jungen Frau, Ingrid. Jeder dieser Momente wirkt wie ein weiteres Anziehen des Schraubstocks, in dem Ingrid gefangen ist. Eine Mutter, die sich ins Bett flüchtet oder zur Rettungsboje Alkohol, ein abwesender Vater, ein Bruder, der sich mit Drogen das Leben schönfärbt, dazu kommen gleichgültige Liebhaber, die mit ihrer unverbindlichen Art Ingrid nicht nur verletzen, sondern letztlich zerstören.
Kaum zu glauben bei all dem Unglück – „Alles ist jetzt“ ist ein Buch von großer Schönheit.
(...)
Ingrids Drama kennt jeder von uns, das Drama aus Liebe und Liebesverrat, aus Anspruch und Enttäuschung. Dieses Drama lebt beständig in uns, es lebt mit uns mit, allerdings verwahren es die meisten sicher in ihrem Innern. Nur manchmal geht ein Riss durch unsere Zufriedenheit. Dann fragen wir uns: Wie es so weit gekommen ist. Wie wir geworden sind, was wir sind. Denn genau genommen ist eben nie etwas vorbei – „Alles ist jetzt“. Die Vergangenheit verschwindet nicht einfach, sie sitzt tief in uns drin. Ein erfolgreiches Leben führen heißt: sich dieses Tatsache nicht allzu häufig vor Augen zu führen.
‚Nicht dran denken.’ Genau damit ist Ingrid beschäftigt. Sie sucht nach Überlebensstrategien, um in der Welt, unserer, zu bestehen. Sie legt sich Rüstzeug an. Aber dieses Rüstzeug taugt immer nur tageweise, bis zur nächsten Verletzung. An einer Stelle im Buch heißt es: „Das Mädchen weiß, dass es nicht betteln soll. Es soll leicht sein und cool. Die Strategin im Mädchen versagt, dem Mädchen laufen Tränen über die Wangen.“
Es gibt ein Wort, das man nur noch selten benutzt, und das mir beim Wiederlesen von Julia Wolfs Buch in den Sinn gekommen ist. Dieses Wort heißt erbarmungswürdig.
Lauter Vergeblichkeiten. Wo Ingrid: Ich liebe dich, sagen will, sagt sie: Für wen hältst du dich bitte? Wo einer getröstet werden will, wird er ausgelacht, wo einer schreien möchte, bleibt er stumm. Im Grunde ist alles, was Ingrid tun kann, ausharren. „Stillsitzen, dann verfliegt die Wut“, heißt es im Buch.
Mit ihren Ohnmachtserfahrungen erinnert Ingrid an die großen Beschädigten der Literatur. Diese Beschädigten, die Menschen mit der lädierten Seele, wohnen gleich nebenan, sie sind im Grunde normal, vielleicht bloß ein wenig empfindsamer. Es sind die mit dem überscharfen Blick, die alles aushalten müssen, weil die Welt scheinbar ausgerechnet an ihnen ein Exempel statuieren will.
Durchaus: Julia Wolfs kraftvoller Roman offenbart uns, in welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen wir leben. Aber er tut es nicht, indem er uns mittels Informationen diese Zusammenhänge erörtert. Was beim Lesen entsteht, ist nicht so sehr Erkenntnis. Es handelt sich eher um eine private Beziehung zwischen Buch und Leser. Man weint und klagt zusammen. Es ist dies der Urgrund der Literatur.
Man hätte die Geschichte von Ingrid auf viele Arten erzählen können. Als großangelegten Familienroman, als Provinzroman, als Geständnis, Ingrid hätte als Ich-Erzählerin auftreten können. Aber nur eine Perspektive war richtig, diese. Was heißt ‚richtig’? ‚Richtig’ heißt, wenn aus einer bloß privaten Geschichte ein Schicksal wird. (Im Übrigen eine Form der literarischen Diskretion.) ‚Richtig’ heißt, wenn das Erzählte selbstverständlich erscheint. Wenn der Leser sich aufgehoben und getröstet fühlt in der Form. Wir beziehen Trost in der Literatur ja nicht aus dem „guten Ausgang“ einer Geschichte, sondern aus der Kraft derjenigen, die schreibt.
Wir beziehen Trost aus der Schönheit der Sprache, die im Falle des Romans von Julia Wolf eine genaue und intensive Sprache ist, ebenso genau und intensiv wie Ingrid die Welt wahrnimmt. Das Manische der Autorin geht in die Tiefenbohrung, in die Präzision des Ausdrucks, in die neuartige Beschreibung des Altbekannten. In Julia Wolfs Roman geht es immerfort um die sogenannte Realität. Zugleich umgeht die Autorin den Realismus.
Gekonnt meistert (Julia Wolf) den Spagat zwischen Ironie, poetischem Sound und der Suche ihrer Protagonistin nach eigenen Worten. Dieses Buch stellt keinen Heldenlauf dar, sondern berichtet von Umwegen, zeugt von einem Ringen um den rechten Ton. Man sieht sowohl einer Figur wie einer Autorin beim Heranreifen zu.
Tagesspiegel 01.März 2015
Es könnte ein ganz handelsüblicher Roman über die Dämonen einer jungen Frau sein, über den Kampf eines Mädchens mit ihrem Schmerz, der mit den üblichen Mitteln – also Alkohol, Selbstzerstörung, ziellosem Treiben – ausgefochten wird. Was ihn dann doch von dieser Art Befindlichkeitsprosa abgrenzt, ist die so deutliche und knappe Form, die ohne Umwege Anteilnahme am Schicksal dieser Frau provoziert. Freilich will man sie noch immer schütteln, ihr andere, neue Wege aufzeigen, die da wären. Aber in dieser verkürzten, kompromisslosen Art des Umgangs ist etwas Beeindruckendes, Fesselndes. Alles ist jetzt. Wir tragen noch immer irgendwo das in uns, was wir waren, wie viele Jahre auch vergangen sind. Wir sind nicht nur Phasen, die wir durchleben. In Julia Wolfs prosaischer Momentaufnahme eines Lebens korrespondieren Sprache und Inhalt auf beeindruckende Weise miteinander, – empfehlenswert ist der Roman allerdings dennoch eher für die, die vor der Schilderung persönlicher Abwege und -gründe nicht zurückschrecken. Und vorallendingen nicht für die, die einfache Lösungen erwarten.
literatourismus.net
Ingrid ist neben der Spur, ist nicht bei sich und auch nicht bei den anderen, ist nicht so richtig anwesend in der Welt. Die Ereignisse der erzählten Gegenwart finden an nur wenigen Tagen am Jahresende statt, aber in geschickt verwobenen Rückblenden wirft Wolf Schlaglichter auf Ingrids Leben. (…) Stakkatosätze, präzise und getrieben zugleich, manchmal à la Streeruwitz nur ein Wort oder zwei; plötzlich wechselnde Perspektiven, stimmig zum Geschehen und Empfinden der Figuren eingesetzt. So entstehen im Kopf der Lesenden starke Bilder, lebendige Szenen.
Missy Magazine 01/15
jetzt
ist
Alles
Vor vielen Jahren, als Ingrid die Welt nicht mehr aushielt, nahm sie ihre Sachen und verschwand. Raus aus dem kleinen, erdrückenden Vorort und dem Haus mit ihrer kranken Mutter, weg von dem Gedanken an Moritz, der nicht zu ihr stand. Doch jetzt ist sie schon Jahre in der Großstadt, und die Luft wird immer dünner. Ihr Bruder vertickt Drogen und Ihre Kollegin in der Live-Sex-Bar liefert sie ans Messer. Als alle sie verraten haben, wird ihr klar: Wohin sie auch geht, ihre Erinnerungen nimmt sie mit. Und die Überzeugung, nichts wert zu sein. Um das zum Verschwinden zu bringen, muss Ingrid endlich handeln. Am Silvesterabend fliegt sie nach New York …
ALLES IST JETZT erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich ihren Dämonen stellt.
Kaum betritt Ingrid das Haus, setzt auch das Heulen ein. Es zieht durch die Räume, kreist um Ingrids Kopf, schlägt mit Fäusten gegen Türen und Wände, was tust du mir an. Etwas in Ingrid wird klein, wie ein Kind, das auf seinem Bett sitzt und lauscht. Das nicht an Gespenster glaubt und sich trotzdem fürchtet. Sie hatte alles vergessen, jetzt ist es da.
Nicht als Erinnerung, sondern als Jetzt.
Sätze wie Atemzüge, gestoßen aus einem Körper, der dem Druck nicht mehr standhält. Eine Sprache im Einklang mit der inneren Bewegung der Protagonistin, die an ihren Gedanken entlanggleitet, die Glasglocke abtastend, in der sie eingeschlossen ist. Eine physische Sprache, die sich am körperlichen Empfinden der Heldin orientiert, an ihrer Taubheit, an ihrer Entfremdung von ihr selbst.
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